Rückblick auf 50 Jahre Jugendberatung im Hinterhaus - (bk) 13.September 2022

Hilfe, wenn das Chaos im Kopf sortiert werden soll

Ohne Frau Leschke gäbe es die Jugendberatung wohl nicht, jedenfalls nicht im Hinterhaus Schneiderberg 19A. Die damalige Eigentümerin des Gebäudes unterstützte 1972 eine Gruppe von zehn Studierenden, die eine Beratungsstelle einrichten wollten. Sie durften die Räume mietfrei übernehmen. Mit ihrem ehrenamtlichen Angebot haben sie voll den Nerv der Gesellschaft getroffen.

Die Nachfrage war so groß, dass schon zwei Jahre später ein Trägerverein gegründet wurde. Damit war die Voraussetzung geschaffen für die Anstellung von professionell ausgebildeten Beratungskräften. Deren Arbeit wurde mit öffentlichen Zuschüssen gefördert, nachdem sich in der Politik die Überzeugung durchsetzte, dass Jugendberatung eine öffentliche Aufgabe ist. Zu einem erheblichen Teil flossen außerdem Spenden in die Vereinskasse, bis zu 30000 Mark im Jahr.

Andrea Hollemann koordiniert die Beratungsaufgaben.

Andrea Hollemann ist Sozialpädagogin und seit 1999 dabei, ihre Kollegin Valentina Kosminski ist seit 1997 für die Verwaltung zuständig, seit einem Jahr arbeiten die Heilpädagogin Julia Bergen und die Sozialarbeiterin Annabel Frieß in der Beratung. Einer der Gründer ist Jürgen Pommerinke, heute Vorsitzender des Trägervereins Jugendhilfe e.V. Wenn sie gemeinsam zurückblicken, können sie zunächst feststellen, was unverändert ist: Die Beratung war und bleibt auf Wunsch anonym und für die Hilfesuchenden immer kostenfrei.

Valentina Kosminski berichtet, dass immer mehr Jugendliche den Nachrichten über Katastrophen, Krieg und Krisen ausweichen wollen, Zukunftsängste nehmen zu.

Vor 50 Jahren sind mehr Gruppengespräche üblich gewesen, heute sind Einzelgespräche gewünscht, erklärt das Beratungsteam im Gespräch mit ZIDUNGE. Gleich geblieben sind die häufigsten Anlässe für junge Leute auf der Suche nach Hilfe: Konflikte in der Schule oder im Studium, offene oder verdeckte Konflikte mit den Eltern.

Offenkundig hat sich der Umgang mit den Problemen verändert, meint Andrea Hollemann. Aus der eigenen Erfahrung und der Dokumentation der frühen Beratungsarbeit geht hervor, dass sich Jugendliche früher vom Elternhaus „offensiv abgegrenzt“ haben , während sie heute eher „um Anpassung bemüht sind.“ In den ersten Gesprächen sagen viele, sie hätten keine Schwierigkeiten zuhause, aber „das ploppt irgendwann auf,“ erklärt Annabel Frieß, manchmal erst im fünften Treffen.

Julia Bergen und Annabell Frieß sind ausgebildete systemische Beraterinnen.

Im Laufe der Zeit gab es Themen, die Jugendliche erheblich verstört haben, die aber aktuell kaum noch eine Rolle spielen. Essstörungen zum Beispiel, sie sind bis vor ungefähr zehn Jahren auffällig häufig Auslöser für heftige Probleme gewesen. Konflikte mit der sexuellen Identität mögen auch vor 50 Jahren schon vorhanden gewesen sein, aber sie wurden sehr selten angesprochen.

Das ist heutzutage anders. Manchen jungen Leuten gelinge es gut, ihre geschlechtliche Identität zu akzeptieren und damit in der Schule und zuhause klarzukommen. Wenn es allerdings ein Grund ist für „Chaos im Kopf, dann helfen wir zu sortieren,“ erklärt Andrea Hollemann. Das kann auch dazu führen, dass Gespräche in einer spezialisierten Beratungsstelle vermittelt werden.

Für das Nordstädter Team ist dieses Beispiel Anlass genug, um auf einen anderen Unterschied zur Zeit vor 50 Jahren hinzuweisen. Ohne Professionalität, also allein mit ehrenamtlichen Engagement wäre die Arbeit schon lange nicht mehr zu leisten. Junge Leute, die sich in existenzbedrohenden Notlagen befinden, brauchen Hilfe von dafür ausgebildeten Fachkräften.

Die Frage, warum in diesem Team zur Zeit keine Männer mitarbeiten, können die Frauen nur mit Vermutungen beantworten. Es könnte daran liegen, dass freie Träger anders als staatliche Einrichtungen nicht das volle Tarifgehalt zahlen, in Verbindung damit, dass die Finanzen insgesamt knapp bemessen sind und deshalb eher Teilzeitstellen angeboten werden. Dafür ist die Nachfrage bei Männern wohl geringer. Jedenfalls gehört es zu den Hoffnungen des Teams für die Zunkunft, finanziell besser ausgestattet und tariflich gleichgestellt zu werden.

Dann könnte auch ein anderes Projekt verwirklicht werden, nämlich das Angebot präventiver Beratung. Damit würde das Team in Schulen gehen. Die öffnen sich gerade für die Idee, Konzepte gegen Gefahren für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu entwickeln. In der Pandemie ist deutlich geworden, wie sehr junge Leute in Schulen und Hochschulen unter dem Mangel an sozialen Kontakten leiden.

Gut bezahlt werden die Beraterinnen nicht, wenn sie Schulklassen in schwierigen Fragen unterstützen. Sie haben Erfahrungen mit Unterrichtseinheiten in Sexualkunde oder in der Sensibilisierung zum Thema Mobbing sowie allgemein im „sozialen Kompetenztraining.“ Auf die Frage nach der Vergütung erklärt das Team, die Schulen hätten „kein Budget dafür,“ sie würden nur mal sachlichen Aufwand erstatten „und ´ne Tasse Kaffee spendieren.“

Mit der eigenen räumlichen und sachlichen Ausstattung im Hinterhaus ist die Beratungsstelle zweifellos gut aufgestellt. Sie wünschen sich mehr Spenden, die fließen längst nicht mehr so wie in den Gründerjahren. Vielleicht löst die Jubiläumsfeier dafür einen Schub aus - es gibt schließlich nicht so viele freie Träger, die auf 50 Jahre kontinuierlicher Arbeit zurückblicken können. Und mit den Umständen im Hinterhaus hat der Verein Jugendhilfe auch unverändert Glück, denn Gertrud Leschke hat nicht nur ihre Liegenschaft sondern auch ihre soziale Einstellung vererbt. Von den Neffen, die heute das Haus vermieten, fühlt sich das Team der Jugendberatung sehr gut unterstützt.


Link auf Webseite der Jugendberatungsstelle im Hinterhaus

Beitrag aus dem Newsletter der Jugendberatung im Hinterhaus