Nachvollziehbare Motivation für radikalen Protest der Klimaaktivisten

Die Letzten wissen, dass sie die Ersten sind, die lange leiden müssen – wenn zu wenig geschieht

Sie nennen sich Letzte Generation, weil sie daran glauben, dass die aktuelle Klimakatastrophe ins Unaufhaltsame kippt, wenn nicht sofort global und lokal umgesteuert wird. Sie sind aber keine Glaubensgemeinschaft, sondern sozusagen der freche Arm der Wissenschaft. Seit der Club of Rome vor 55 Jahren gegründet wurde, um die drohenden Gefahren in Folge der wirtschaftlichen Ausbeutung der Natur zu untersuchen und Alternativen anzumahnen, wächst zwar die Zustimmung in der Bevölkerung für die Erkenntnisse. Aber das reicht nicht für das notwendige politische Umsteuern. Also glaubt die letzte auch, dass sie die erste Generation sein wird, die die volle Wucht der Katastrophe trifft - wenn zu wenig gehandelt wird. Das sieht die Wissenschaft genauso, die von Kipppunkten spricht, die in naher Zukunft drohen. Bis zu diesem Moment findet die Letzte Generation (LG) Verständnis, sogar breite Zustimmung im Volk für ihre Ängste und Sorgen. Aber dann kleben die sich auf die Straße - das geht doch gar nicht, oder?

Nein, sagt Hannovers Oberbürgermeister (OB) Belit Onay. Er ist überhaupt nicht einverstanden mit dieser Form des Protestes. Das erklärt er mehr als 150 Leuten im Foyer des Universitätsgebäudes am Königsworther Platz und weiteren 80 im Live-Stream. Er sagt aber dazu, "diese Menschen fordern, was in internationalen Verträgen und nationalen Gesetzen steht." Aus dieser Überzeugung hat er die lokale LG-Gruppe ins Rathaus eingeladen. Vier Abgesandte fragten ihn zuerst, wie er denn persönlich zu ihrem Anliegen steht. Er war wohl in seiner Antwort so schlüssig und glaubwürdig wie vor dem Publikum in der Leibniz Universität Hannover (LUH). Es kam jedenfalls zu einer Verabredung: Die LG klebt sich nicht mehr auf Hannovers Straßen fest, der OB schreibt in einem offenen Brief an die demokratischen Fraktionen im Deutschen Bundestag, er unterstütze die politischen Forderungen der Letzten Generation: Neun-Euro-Ticket für Alle, Tempolimit auf Autobahnen und ein Gesellschaftsrat, der den Bundestag sozusagen mit Petitionsrecht in Klimafragen berät.

Podium mit (von links) Susanne Beck, Belit Onay (Bündnis90/Die Grünen, Liliane Allgeyer, Anja Schollmeyer (SPD), Jochen Bung, Sebastian Haunss. Aufnahme bk.

Der Brief "hat leider nichts am Klimaschutz geändert," merkt die Kommunalpolitikerin Anja Schollmeyer an. Sie drückt damit ihre Distanz aus, die sie nicht nur zu den Aktionsformen der LG empfindet sondern auch zum OB, mit dem sie sonst in der Einschätzung übereinstimmt, die politischen Forderungen der Klimaaktivisten seien "absolut unterstützenswert." Sie sollten aber so rechtskonform vertreten werden, wie es beispielsweise die internationale Bewegung Fridays für Future mit ihren Demonstrationen seit Jahren tut.

Ob das Recht dem Unrecht weicht? Nein.

Die Frage, ob die LG die Grenze rechtsstaatlich legitimierter Protestformen berührt oder sogar überschreitet, war ja gerade der Anlass für die Podiumsdiskussion, zu der der Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung und Rechtsphilosophie der LUH eingeladen hat. Professorin Dr. Susanne Beck moderierte die Debatte. Sie hatte in der Einladung überspitzt die Frage formuliert, "ob das Recht dem Unrecht weicht?" Ihre beiden Wissenschaftskollegen Professor Dr. Jochen Bung (Rechtsphilosophie und Strafrecht, Universität Hamburg) und Professor Dr. Sebastian Haunss (Politikwissenschaftler am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen und Gründungsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung) erklärten jeweils in etwa 15 Minuten, warum sie die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit eingehalten sehen.

Rechtsphilosoph Bung hat sich mit einem schriftlichen Manuskript vorbereitet, um auf jeden Fall den gewünschten kurzen Vortrag zu halten. Grundsätzlich, so meint er, können Autokratien weltweit nur dort ausgebremst werden, wo es eine Zivilgesellschaft und deren öffentliche Wahrnehmung gibt. Dazu gehöre dann auch, dass sich "Proteste manifestieren in der beharrlichen Anwesenheit von menschlichen Körpern, die etwas aufhalten, anhalten, behindern, blockieren." Spontan hat das mehrheitlich junge Publikum im Foyer dafür Beifall gezollt.

Fehlt die enge Bindung von der Aktion zum Thema? Nein.

Politikwissenschaftler Haunss outete früh seine Sympathie für die Initiative von OB Onay, dem unter anderem öffentlich vorgehalten wurde, das Gespräch mit vermeintlichen Rechtsbrechern gesucht zu haben. Haunss meint, Treffen von Politikern mit Gruppen im vertraulichen Kreis sei "alltägliches Geschäft." Zur Frage von Widerstandsformen setzte Haunss mit der Erinnerung an Mahatma Gandhis "Salzmarsch" 1947 an. Diese gewaltfreie Bewegung gilt als Endpunkt der britischen Kolonialherrschaft über Indien. In den Protesten der LG vermisst Haunss aber die "enge Bindung von Aktionen zum Thema."

Das forderte Liliane Allgeyer zur Wortmeldung heraus. Sie gehört in Berlin zum juristischen Team der Letzten Generation und hatte zuvor schon ein paar Erklärungen zu Motivation und Zielen der Bewegung abgegeben. In zwei Verfahren vor dem Amtsgericht Tiergarten ging es gerade am Tag zuvor um die Einordnung von strafrechtlicher Relevanz von Klebeaktionen. Eine Richterin hat dabei eingeräumt, dass sie sehr wohl den Zusammenhang sehe zwischen der Störung des Verkehrs, der eine wesentliche Ursache der Klimakatastrophe sei, und den Zielen der LG.

Die 24Jährige Allgeyer erzählte, dass sich die LG auch als soziale Bewegung verstehe. Und sie meint: "Eigentlich schrauben wir an unserer Abschaffung." Sie ging auf die öffentlichen Vorwürfe ein, in Berlin habe ein von der LG verursachter Stau die Rettung eines Unfallopfers behindert. Ihr Gegenargument ist sicher gerichtsfest: In jedem Stau, egal aus welchem Anlass er entsteht, müssen die Autofahrenden eine Rettungsgasse bilden. Und sie setzte hinzu: In jeder Klebegruppe der LG gebe es eine Person, die das Ankleben nur vortäuscht, damit im Notfall die sofortige Durchfahrt von Rettungswagen möglich ist.

Vermutlich hat Allgeyer wesentlich dazu beigetragen, dass der Wunsch der Moderatorin Beck nach gut hundert Minuten in Erfüllung gegangen ist. Sie hat der Versammlung von Leuten, die (fast) alle respektvoll auch in der halbstündigen Publikumsdebatte Argumente ausgetauscht haben, am Ende auf den Weg gegeben: Bitte nehmen Sie die Gedanken mit nach Hause.


Auf Anfrage hat Jochen Bung dankenswerterweise sein Manuskript zur Veröffentlichung in zidunge.de freigegeben:


Wikipedia erklärt: Letzte Generation -.- Club of Rome -.- Mahatma Gandhi

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