Umstrittene Wirklichkeit - vierter Beitrag zur Reihe Fakten, Fakes, Fiktionen

Wer weinen kann, kann nicht des Teufels sein

Vor gut 400 Jahren war es auch sehr unruhig in Europa. Die Historikerin Michaela Hohkamp spricht vom Vorabend des 30jährigen Krieges, von sozial und kulturell gespannten Zeiten. In Hannover werden 1604 und 1605 acht Frauen als „Zaubersche“ vor Gericht gestellt.

Illustration der LUH zum Thema "Hexenwerk an der Schwelle zur Moderne"

Die lebhafte Schilderung ihrer Schicksale und die wissenschaftliche Einordnung der Lebensumstände hat das Publikum in der Ada und Theodor Lessing-Volkshochschule (VHS) fasziniert. Am Ende stellt der Moderator Marcus Peter fest, ihm sei schaurig zumute angesichts von Parallelen zur heutigen Lage, und er fragt die Historikerin, ob wir etwas lernen können davon, wie die Menschen aus der magischen Welt herausgefunden haben. Hohkamp stellt die Gegenfrage: „Sind wir raus?“

Die Leibniz Universität Hannover (LUH) hat zusammen mit der VHS und dem Theatrum e.V. die Vortragsreihe mit dem Motto „Fakten, Fakes und Fiktionen“ konzipiert. In diesem vierten von sechs Teilen ging es um das Thema „Umstrittene Wirklichkeit: Hexenwerk an der Schwelle zur Moderne.“ Die Überschrift steckt den Rahmen, den die Historikerin im Lauf der Diskussion präzisiert: Die Menschen „teilen zwar die Wissenswelt, entwickeln aber verschiedene Realitäten.“

Die lokale Geschichte ist in der Ausstellung im Beginenturm dokumentiert worden, die das Theatrum zusammen mit dem Historischen Museum im September und Oktober dieses Jahres gezeigt hat. Dafür hat Katharina Peter etwa 500 Seiten über Prozesse gegen Frauen und auch gegen einen Mann durchgearbeitet. Daraus hat sie Texte entwickelt, mit denen wie im Hörspiel für jeweils eine Minute acht Frauen ihren Blick auf die Geschehnisse geschildert haben. Im Beginenturm sind diese Texte in jenem Raum vorgespielt worden, in dem die Frauen verhört und eingesperrt waren.

Dieselben Texte hat Katharina Peter im berichtenden Erzählton im VHS-Saal vorgetragen. Dazu stand auf der Bühne ein leerer Stuhl für die Frauen, die sich dem Vorwurf stellen mussten, sie seien dem Teufel verfallen. Zu jedem einzelnen Schicksal hat Michaela Hohkamp die wissenschaftliche Einordnung vorgenommen.

Professorin Michaela Hohkamp (links) beantwortet Fragen aus dem Publikum, Katharina Peter hat in den Archiven Protokolle von Prozessen gegen "Zaubersche" ausgewertet und szenisch vorgetragen. Aufnahme zidunge.

Die Historikerin erwähnte, sie wolle nicht vom Hexenwahn sondern vom Hexenglauben sprechen. Die „mittlerweile wirkmächtigste“ Forschung über die weiße und schwarze Magie in der beginnenden Neuzeit gehe auf die einzelnen Fälle ein, und besonders auf deren Lebensumstände mit Fokus auf die herrschaftlichen Strukturen.

Frauen, die magische Praktiken vollzogen, wurden auch "Zaubersche" genannt. Deren Schicksal nahm
seinen Lauf, wenn sich weiße Magie in schwarze wandelte, wenn heilender Zauber zu
Schadenszauber wurde, der als Teufelswerk denunziert wurde. In der religiösen Welt der Frühen
Neuzeit hatten populäre magische Praktiken ihren Platz, waren akzeptiert und anerkannt, erklärte
Michaela Hohkamp. Männer und Frauen gaben ihre Kenntnisse über besondere Fähigkeiten weiter,
auch an Jugendliche. Wenn sie Erfolg hatten, genossen sie Wertschätzung.

Professorin Hohkamp räumte mit einigen Anschauungen auf, die heutzutage zum „kollektiven
Gedächtnis“ über Hexenprozesse gehören. Diese Verfahren seien ohne den Blick auf den sozialen
Kontext, auf die Alltagsbeziehungen aller Beteiligten, kaum zuverlässig einzuordnen. Es gab Regeln, zum Beispiel waren Denunziationen verboten, „aber daran hielten sich nicht alle.“ Es gab
Instanzen, die über die Regeln wachten.

Wenn ein Prozess eingeleitet wurde, waren bestimmte Verfahrensschritte einzuhalten. Zuerst
wurden die Beschuldigten befragt, die Beschuldigenden gehört. Wurde die Schuld nicht sofort
eingestanden, aber glaubwürdig bezeugt – „auch Hörensagen hatte Beweiskraft“ – konnten
Angeklagte mit schlechtem Leumund gefoltert werden, um „die Wahrheit aus dem Körper zu
extrahieren.“ Wer die Folter aushielt, ohne Schuld zu bekennen, durfte nicht umstandslos zum Tode
verurteilt werden. In Zweifelsfällen riefen die Gerichte höhere Instanzen an oder legten die Fälle
den juristischen Fakultäten zur Prüfung vor. Das hannoversche Gericht wendete sich mit seinen
Fragen an die Universität in Helmstedt.

In einem der von Katharina Peter vorgestellten Verfahren führte die akademische Prüfung dazu,
dass die Folter eingestellt und der Prozess beendet wurde. Die Juristen stellten fest, es seien keine
„Indicia“ vorgelegt worden, die eine erneute Folterung gerechtfertigt hätten. Die Frau wurde
freigelassen. Eine andere Frau hat überlebt, weil sie glaubhaft ihre Fähigkeit zum Weinen zur Schau
stellte. Das Gericht verkündete, dass ein Mensch, der weinen kann, nicht vom Teufel besessen sein
kann. In den anderen an diesem Abend vorgestellten Fällen wurden Todesurteile verhängt. Üblich
war das Verbrennen, wobei die Verurteilten in aller Regel zuvor getötet wurden. Eine andere Form der Hinrichtung war das Enthaupten, das als weniger ehrenrührig als das Verbrennen galt. „Hexenverbrennung“ bei lebendigem Leib war die Ausnahme, erklärt die Historikerin.

Konkurrierende Obrigkeiten, religiös und weltlich geprägt, bestimmten die Bedingungen, unter
denen zumeist „randständige“ Personen von Anschuldigungen betroffen waren. Die Forschung
erkennt „widerstreitende Realitäten,“ in denen die am gesamten Verfahren beteiligten Personen
lebten und handelten. Wenn Familien und Nachbarschaften Zweifel an der Unschuld hegten, wenn
die Menschen allein waren mit ihrer Pein, dann konnte die Behauptung, der Teufel habe Besitz von
der Beschuldigten ergriffen, allseits glaubhaft erscheinen. Eine der Frauen gab zu Protokoll: „Am
Ende habe ich es selbst geglaubt.“

Genau diesen Satz zitiert Michaela Hohkamp als ein Schlüsselwort in der Forschungsfrage: Was ist
eigentlich fiktional? Es gibt Belege dafür, dass sich in der beginnenden Neuzeit Erwachsene und
Jugendliche bei einer religiösen Instanz selbst angezeigt haben, weil sie von Zweifeln an ihrem
Selbst geplagt waren. Die Forschenden vermuten, dass dieses Verhalten bei Kindern und
Jugendlichen mit den Unsicherheiten vor oder am Beginn der Pubertät zusammenhingen. In den
Überlieferungen lassen sich derlei Selbstanzeigen bei Jungen und Mädchen bis zu einem Alter von
13 oder 14 Jahren ausmachen.

Die Forschung zu Hexerei und Hexenprozessen dient also nicht nur dem Ziel, herauszufinden was
wem geschah. Im Umgang mit der Frage nach „Fakten“ stoßen Forschende immer wieder auf die
Frage nach den verschiedenen gesellschaftlichen Logiken und Realitäten. Michaela Hohkamp sieht
eine ordnende Aufgabe darin, die Aufmerksamkeit auf Einzelschicksale zu lenken und die
Lebensbedingungen aller an einem Hexenprozess beteiligten zu untersuchen. Damit werden
unterschiedliche Blickwinkel auf Realitäten erkennbar. Und Vorsicht, mahnt sie: „Fiktion in der
Geschichtsschreibung kann auch eine Form sein, eine mögliche Realität zu schaffen.“


Diese zweite Textfassung ist am 11. November 2022 veröffentlicht, nach Rückfragen der Redaktion bei Katharina Peter und Michaela Hohkamp, verbunden mit der Bitte, den Beitrag auf Fakten zu prüfen. Die Redaktion bedankt sich für die sorgfältige Prüfung. Die Übernahme von Anregungen sowie die Korrektur von Fakten sind hier nicht extra kenntlich gemacht.

Sie arbeiten an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst: theatrum-hannover.de

Link auf LUH-Seite von Professorin Hohkamp


Vortragsreihe über Mythen, Fakten und Fiktionen

Forschende der Leibniz Universität Hannover beleuchten zusammen mit der Volkshochschule und dem Verein Theatrum e.V. Verschwörungsmythen, Fakes und postfaktische Diskurse. Die Vortragsreihe gibt Einblicke in die Forschung verschiedener Disziplinen rund um „Fakten, Fakes und Fiktionen“. Die Themen reichen dabei von der Hexenverfolgung über gezielte Desinformation in Nachrichtenvideos bis zu verschwörerischen Attacken in sozialen Netzwerken. Die Reihe wurde eröffnet durch den Universitätspräsidenten Prof. Dr. Volker Epping und ist eine Initiative der Leibniz Universität Hannover (Referat für Kommunikation und Marketing; Leibniz Science Communication LAB), des Theatrum e.V. und der Volkshochschule Hannover im Rahmen des multimedialen Ausstellungsprojekts „Von Hxn, Fake-Birds und anderen VeRsChWöRuNgEn“.

Link auf das Programm und die Anmeldeformalitäten


Bericht über den ersten Vortrag in der Reihe : Welche Muster haben falsche Erzählungen in Fotos und Filmen?


Bericht über den zweiten Vortrag: Über Deep Fakes und falsche Wahrnehmungen von IT-Sicherheit, Prof. Dr. Markus Dürmuth